„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.“ (1. Samuel 16,7)

Der Prophet Samuel soll einen der Söhne des Isai zum neuen König über Israel salben. Der Reihe nach werden ihm sieben stattliche junge Männer vorgeführt. Doch Gott will keinen von ihnen, obwohl für Samuel mit menschlichen Maßstäben gemessen jeder davon in der Lage wäre, König in Israel zu sein. Gott hat den jüngsten, den achten Sohn, auserwählt: David, ein Kind noch, das vom Schafehüten herbeigeholt werden muss. Gegen den äußeren Anschein belehrt Gott seinen Propheten Samuel: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.“

Dazu passt auch die folgende Geschichte, die auf humorvolle Weise aufzeigt, wie schnell Vorurteile uns beherrschen können: „Es kaufte sich eine ältere Frau im Schnellrestaurant einen Teller Suppe. Behutsam trug sie die dampfende Köstlichkeit an einen Stehtisch und hängte ihre Handtasche darunter. Dann ging sie noch einmal zur Theke: den Löffel hatte sie vergessen. Als sie zum Tisch zurückkehrte, stand dort doch tatsächlich ein Afrikaner und löffelte die Suppe. Zuerst schaute die Frau ganz verdutzt; dann aber besann sie sich, lächelte ihn an und begann, ihren Löffel zu dem seinen in den Teller zu tauchen. Sie aßen gemeinsam. Nach der Mahlzeit – unterhalten konnten sie sich kaum – spendierte der junge Mann ihr noch einen Kaffee. Er verabschiedete sich höflich. Als die Frau gehen wollte und unter den Tisch zur Handtasche greifen will, findet sie nichts – alles weg. Also doch ein  hinterhältiger Spitzbube. Ich hätte es mir doch gleich denken können! Enttäuscht schaut sie sich um. Er ist spurlos verschwunden. Aber am Nachbartisch erblickt sie einen Teller Suppe, inzwischen kalt geworden. Darunter hängt ihre Handtasche.“

‚Peinlich, peinlich’, mag man denken. Nicht nur, dass sie den Afrikaner aufgrund ihres Vorurteils als Taschendieb verdächtigt, nein, auch seine Freundlichkeit und Gastfreundschaft stellt die Frau in ihrer Engherzigkeit bloß.

Unser menschlicher Blick und unser Urteilsvermögen werden oft von Äußerlichkeiten gesteuert. Es ist schwer, dem Nächsten damit gerecht zu werden. Gott hingegen sieht das Eigentliche, das Wesen eines Menschen. Er weiß, was uns bewegt, welche Erfahrungen wir gemacht haben, was uns im Positiven und Negativen geprägt hat und prägen wird. Einerseits können wir deshalb vor ihm nichts verbergen, andererseits dürfen wir aber auf ihn als einen verständnisvollen, uns gerecht werdenden Gesprächspartner hoffen. Und drittens bewahrt uns diese Einsicht aus dem Alten Testament davor, vorschnelle Urteile über andere zu fällen. Unser menschlicher Blick ist eben nur vordergründig und deshalb vorläufig. Denn nur Gott vermag, in das Herz eines Menschen zu sehen.

Ihr Pfarrer Joachim Schuler