Ich sitze am Heck eines großen Kreuzfahrtschiffes auf hoher See vor Norwegen und sehe auf das Meer hinaus.
Ich sehe nur die Spur der Wellen die das Schiff ins Wasser pflügt. Kein anderes Schiff, kein Land sind in Sicht. Wie groß ist das Meer, wie weit und anscheinend grenzenlos.
Was würde wohl mit dem Meer geschehen, wenn ich hineinfiele und darin unterginge…? Würde es für das Meer einen Unterschied machen? Würde das Meer überhaupt bemerken, was da geschieht?
Wohl kaum. Im Verhältnis zu diesem großen und weiten Meer bin ich unbedeutend, ein Nichts, ein Hauch.
„Was ist der Mensch?“
Dasselbe Schiff bringt mich in die Wunderwelt der Fjorde. Ich sehe Wasserfälle, die sich in tausenden von Jahren in den Stein gegraben haben. Ich sehe Steilwände, die sich 1000 Meter über mir erheben. Ich sehe Gletscher, die schon tausend Jahre existieren und noch lange existieren werden, wenn ich schon lange nicht mehr da bin.
„Was ist der Mensch?“
Ein paar Wochen später sitze ich noch spät am Abend auf der Terrasse und sehe in den Sternenhimmel. So unzählbar viele Sterne leuchten, darunter einige, deren Licht mich heute erreicht, die aber schon vor langer Zeit erloschen sind.
So viele Sterne, so unendliche Weiten, so viel Zeit… und was bin ich?
„Was ist der Mensch?“
Drei Erfahrungen, denen ich noch einige hinzufügen könnte. Sie alle machen mir eines deutlich:
Vor dem Hintergrund des Weltalls, vor dem Horizont des Meeres, vor der Schönheit und Majestät der Natur bin ich kleiner Mensch ein Nichts, unbedeutend, unwesentlich.
Im Alltag, in den Medien erlebe ich oft eine ganz andere Sicht der Dinge und des Menschen.
„Wichtig, wichtig, höchste Priorität!“ rufen mir die Nachrichten entgegen.
Menschen nehmen Raum und Zeit um ihre Befindlichkeiten, ihre Probleme darzustellen und zu erörtern. Diskussionen ohne Ende werden geführt, deren Thema oft nur die Eitelkeit der Teilnehmenden ist.
„Was ist der Mensch?“
Die Frage des Psalms richtet meinen Blick neu aus. Er weist mich darauf hin, was und wer ich eigentlich bin: Geschöpf, sterblich, vergänglich.
Der Blick auf das große Meer, auf die Wunder der Natur kann mich lehren mich als den zu sehen der ich wirklich bin: ein Mensch, ein Geschöpf, das kommt und geht und von dem nur sehr vergängliche Spuren bleiben. Dieser Blick auf mich selbst führt zu eine Haltung, die mit dem Wort Demut bezeichnet wird. Das meint nicht eine missmutige oder unterwürfige Haltung. Gemeint ist auch nicht eine Einstellung, die alle Leistung abschätzig entwertet. Gemeint ist das Bewusstsein der Vergänglichkeit und der Tatsache, dass wir Geschöpfe sind, Geschöpfe Gottes. Und obwohl wir vergänglich, wie Gras oder Staub sind, wendet Gott sich dennoch jeder und jedem zu, begegnet uns mit Liebe. Das ist ein mindestens ebenso großes Wunder wie das Meer, die Natur oder der Sternenhimmel, die mich bescheiden aber auch immer sehr staunend glücklich sein lassen… und auch demütig.
Ihr Pfarrer Rolf Klein